Selbst gezimmerte Geburt
(…) Tarzan ist der Sohn von Lord Greystoke. Seine Eltern werden von Meuterern an der Westküste Afrikas abgesetzt. Dort kommt er 1888 in einer selbst gezimmerten Hütte abseits jeder Zivilisation zur Welt.
Besser wäre z.B.:
Dort kommt er 1888 in einem von seinem Vater gebauten Blockhaus abseits jeder Zivilisation zur Welt.
Lincoln’s Cabin
In den USA hat es die Stilblüte “Abraham Lincoln was born in a log cabin which he built with his own hands” zu Berühmtheit gebracht – Lincoln wurde in einer Blockhütte geboren, die er selbst gebaut hatte –, angeblich der Ausspruch eines Studenten an der University of Wisconsin1). Die Formulierung ist für sich gesehen lächerlich. Aber mir ist noch keine bessere untergekommen, um das amerikanische Konzept des self-made man (oder, um das Konzept zu modernisieren, der self-made person) in seiner Konsequenz begreiflich zu machen: Immer auf die eigene Kraft vertrauen, sich sein eigenes Bett machen, seinen eigenen Weg durchsetzen. Der amerikanische Traum, eine grundlegende Doktrin der amerikanischen Zivilisation verkörpert in diesem kleinen, sinnlosen Satz.
Greystoke’s Predicament
Für das aktuelle Beispiel gibt es keine vergleichbare Verwendung. John Clayton III. Lord Greystoke alias Tarzan hat daheim in England Anspruch auf ein luxuriöses Bett, einen Sitz im Oberhaus und eine sichere Stellung in der Führungsschicht des Landes, auch wenn zunächst ein Cousin diese Privilegien vom Totgeglaubten übernommen hat. Als am Ende des Romans ein Wort genügt, um die rechtmäßigen Verhältnisse wieder herzustellen, verzichtet der Edle, der jetzt ein Wilder ist, darauf und bleibt lieber der Sohn einer Affenmutter, die begreiflicherweise “couldn’t tell me much about it. I never knew who my father was”2). Ein Wort hätte genügt, um Tarzan in John Clayton III. Lord Greystoke zurückzuverwandeln und aus der kolonialen Ungeheuerlichkeit, aus europäischer Sicht, das erlösende Happy End zu machen. Doch wie Robinson Crusoe, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, verzichtet Tarzan auf die Bequemlichkeit und den Zwang zivilisatorisch geordneter Verhältnisse, vor denen Robinson überhaupt erst ausgerissen ist. Mit dem Unterschied, dass Robinson Crusoe zuhause niemand einen Platz freihalten würde und er vor der beengenden Möglichkeit, sein Leben lang mit einer braven, durchschnittlichen, anonymen Karriere im Mittelstand seine soziale Verträglichkeit zu beweisen, aus eigenem Antrieb in die Gefahr und Chance der Selbstbestimmung ausgezogen war.
Wahl der Freiheit
Das ist, wohlgemerkt, das Ende von Burroughs’ Roman mit der Entscheidung eines Geistes, der den anderen überlegen ist, nicht nur den Wilden offensichtlich, die scheinbar keiner Ordnung unterworfen sind, sondern mittlerweile überlegen auch den Gezähmten, die jederzeit auf die von anderen angehäuften, unendlich scheinenden Ressourcen zurückgreifen können. Zu Beginn des Romans ist Greystokes “selbstgezimmerte” Hütte hingegen kein vielversprechender Anfang, sondern der Beginn einer Prüfungs- und Bewährungssituation. Zurück zum Start, aber nicht zum eigenen, sondern dem der Menschheit, unerwartet der Wildnis ausgesetzt; ein Notprogramm nach dem Ausfall der arbeitsteiligen Zivilisation, in der das Privileg darin besteht, nicht arbeiten zu müssen, die Privilegierten sich aber trotzdem vor dem sogenannten gemeinen, arbeitenden Volk durch hervorragende Eigenschaften und Fähigkeiten auszeichnen – “mentally, morally, and physically”. So lassen sie sich zumindest abbilden, weil ja zumindest irgendwer in ihrer Ahnenreihe etwas richtig gemacht haben muss. Kein Ungeborenes vom Status eines künftigen Lord Greystoke würde daher irgendein gesellschaftlich relevantes Signal darin gesehen haben, im afrikanischen Regenwald den Horden von Eingeborenen und Affen, allesamt Anthropoiden in den Augen des mit aller Macht einfallenden Europäers, zwischen denen die Greystokes sicherlich nicht allzu viele Unterschiede hätten nennen können, die mythische Fähigkeit zu beweisen, seine eigene Geburtshütte zu bauen – was hätte er, anders als Lincoln, noch werden können außer dem, was er ohnehin schon war? Als der nach den Gesetzen des Dschungels und in Erkenntnis seines ursprünglichen zivilisatorischen Status erwachsen Gewordene die Wahl hat, wählt er die ganz unerwartete Alternative, selbstbestimmt den eigenen Regeln zu folgen.
Das Haus gegen die Wildnis
Wenn das Falsche also nicht das Richtige ausdrückt, bleibt der Witz des selbstgezimmerten Geburtshauses. Gemeint ist, wie im Roman ausführlich beschrieben, der Bau einer festen Behausung, die vor den wilden Tieren schützt, die sich bereits in der ersten Nacht auf dem Festland unangenehm bemerkbar machen. Der Bauherr und –meister, Tarzans Vater, wird beschrieben als “the type of Englishman that one likes best to associate with the noblest monuments of historic achievement upon a thousand victorious battlefields”3), der zudem die peinliche Situation als eine Art Zeitreise anzusehen schien, denn “Hundreds of thousands of years ago our ancestors of the dim and distant past faced the same problems which we must face, possibly in these same primeval forests. That we are here today evidences their victory”4). Diese Prämisse straft er sofort Lügen, denn außer seiner unerhörten mentalen und physischen Grundausstattung (siehe oben) führt er noch alle modernen Gerätschaften und Vorräte mit, die ursprünglich für Greystokes geheime Mission in Afrika gedacht waren, was dem Engländer den Bau einer schützenden Unterkunft nach allen Regeln der Kunst erlaubt: Er schichtet Balken zu einem Blockhaus übereinander, errichtet aus Steinen eine Feuerstelle mit einem Rauchfang, deckt das A-förmige Dach mit Zweigen, Palmbättern und Dschungelgras und bedeckt schließlich Wände und Dach mit einer festen Lehmschicht. Ein Fenster und die Türe werden affen- und leopardensicher montiert.
“Selbst” ist rückbezüglich
Es handelt sich also um ein selbst gebautes Haus, von gezimmert allein kann bei all dem Aufwand keine Rede mehr sein. Und es ist ein von Greystoke selbst gebautes Haus, ein Do-it-yourself-Objekt. “Selbst” zeigt eine Rückbezüglichkeit an, das sieht man an seinen Wortverbindungen von der Selbstachtung bis zum Selbstzweck. Es weist in Kombination mit einem Partizip Perfekt einer Person, meist dem Subjekt des Satzes, etwas als Ergebnis ihrer eigenen Handlung zu. Ich esse selbst gemachte Marmelade; sie litt an der selbst verschuldeten Einsamkeit; er wohnt in einem selbst errichteten Baumhaus; euch tut der selbst gebrannte Schnaps nicht gut; die Urlauber erhielten von den Bauern die selbst gemolkene Milch zum Frühstück. Wenn der Bezug nicht klar ist, muss er verdeutlicht werden: Die Bauern reichten den Urlaubern die von diesen selbst gemolkene Milch zum Frühstück. Das gilt nur, wenn es nach dieser Regel zwei grammatisch und semantisch funktionierende Möglichkeiten gibt, aber nicht, wenn sich das “selbst” eindeutig auf jemanden bezieht, der diesen Bezug nicht in Anspruch nehmen kann, wie ein Ungeborenes den Bau einer Hütte. Wir sind also ziemlich sicher, das Kind kann nicht gemeint sein, doch das “selbst” hängt folglich in der Luft, hat keinen Adressaten mehr, somit braucht es eine andere Funktion. Wenn von “selbst gezimmert” gesprochen wird, ohne den Urheber zu nennen, ist eine eindeutige konnotative Einbettung nötig, um zu verstehen, warum das überhaupt hier steht. Wie muss man sich eine, oder besser, alle selbst gezimmerten Hütten denn vorstellen? Notdürftig und unsicher wie einen unterwegs selbst geflickten Reifen? Ein bisschen umständlich beschriftet und bekömmlich wie hausgemachte Marmelade? Als Zeichen für Selbstständigkeit wie einen selbst angenähten Knopf?
Nachbemerkung: “Nicht Selbst” ist nicht rückbezüglich
Interessanterweise hebt die Verneinung die Rückbezüglichkeit auf. Ich esse selbst gemachte Marmelade meint Marmelade, die ich selbst gemacht habe. Ich esse keine selbst gemachte Marmelade meint hingegen Marmelade, die irgendwer selbst gemacht hat – das für sich Stehende wird zum Stellvertreter.
1) James W. Loewen: Lies Across America: What American Historic Sites Get Wrong. New York: Touchstone/Simon & Schuster, 2007. https://books.google.at/books?id=vBZiU_tmRmgC&pg=PA155
2) “…konnte mir nicht viel darüber erzählen. Ich erfuhr nie, wer mein Vater war”. Edgar Rice Burroughs: Tarzan of the Apes. http://www.gutenberg.org/ebooks/78, Kap. 28
3) “…ein Engländer von der Art, wie man sie mit den edelsten Beispielen historischer Heldentaten auf tausenden siegreich zurückgelassenen Schlachtfeldern verbindet”, ebenda Kap. 2
4) “Vor Hunderttausenden von Jahren waren unsere Vorfahren aus der düsteren, fernen Vergangenheit mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert, die wir bewältigen müssen, möglicherweise in denselben urzeitlichen Wäldern. Dass wir heute hier sind, beweist, dass sie sich durchgesetzt haben”, ebenda Kap. 2