Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 1879/80

‘Zuweilen stützt sie ausruhend den Kopf auf die Hand und blickt unverwandt in das Feld hinaus, über die Dächer weg oder in die Wolken; wenn es aber dämmert, so läßt sie das Rad stillstehen und bleibt so im Dunkeln sitzen, ohne Licht anzuzünden, und wenn der Mond oder ein fremder Lichtstrahl auf ihr Fenster fällt, so kann man alsdann unfehlbar ihre Gestalt in demselben sehen, wie sie immer gleicherweise ins Weite schaut.’

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, 2. Fassung von 1879/80, Kap.6: Heimatsträume, p.134. Online: Walter Morgenthaler

Oberflächlich gesehen hat die Ruhe dieser Passage einen romantischen Charakter — der Blick in die Ferne, das Verdämmern des Tages, der Mond, die Stille. Doch anderes deutet darauf hin, dass die Heldin dieser Beschreibung nicht im Sinn der Romantik mit der Situation im Reinen ist. Das Aufstützen ihres Kopfes ist keine kontemplative Geste, sondern die Folge körperlicher Erschöpfung, denn es wird uns in einem früheren Absatz mitgeteilt, dass sie bei Tageslicht, von den erwähnten Pausen abgesehen, immer am Spinnrad arbeitet. Sie blickt nicht etwa sinnend, innerlich bewegt in Feld oder Wolken, sondern unverwandt, also ohne sich abzuwenden, und schaut auch nach Einfall der Nacht “immer gleicherweise ins Weite”. Wir erfahren in diesem Absatz nichts über ihre Gefühle und Empfindungen, nur Handlungen werden uns beschrieben, die auf Erstarrung und ständige Wiederholung hindeuten. Die Fixierung auf das Spinnen und das Hinausstarren in die Ferne erhalten durch den Kontext ihren Sinn. Ihre Ursache ist das Verhalten der Titelfigur von Kellers Roman, des “grünen Heinrich”, des Sohnes der hier Beschriebenen, der sich wegen seiner Erfolglosigkeit von seiner Mutter nach wie vor finanziell aushalten lässt. Heinrich Lee, der ausgezogen ist, um Maler zu werden, muss erst von einem Freund auf den Gedanken gebracht werden, das fruchtlose Leben in der Stadt abzubrechen und seine Mutter aus ihrer Situation zu erlösen, die derweilen am Spinnrad arbeitet, “als ob sie sieben Töchter auszusteuern hätte”, und ins Weite starrt, wo sich irgendwo ihr Sohn befindet, für den sie auf ihr eigenes Leben verzichtet.