Sein oder nicht haben

Bei der Anklage wegen Amtsmissbrauchs blieb es aber, weil die Beamtin ‘Kontrollmechanismen bewusst umgangen ist und in Listen die Akten falsch eingetragen hat, um ihre Tat zu verschleiern’, prangerte die Staatsanwältin an.

Richtig ist:

…weil die Beamtin ‘Kontrollmechanismen umgangen und in Listen die Akten falsch eingetragen hat, …

Habe oder bin? Es ist an sich positiv, dass die Staatsanwältin hier nicht dem Trend folgen will, “haben” statt “sein” für die Vergangenheitsform von Verben zu verwenden, die kein Objekt verlangen. Zum Beispiel “ich habe dort gestanden” statt “ich bin dort gestanden”. Wobei die Verwechslung noch bedeutender wäre, wenn wir das “dort” weglassen.

Für ein Verb, welches ein Objekt verlangt, das im 4. Fall (Akkusativ) steht (transitives Verb), muss “haben” als Hilfszeitwort verwendet werden, auch dann, wenn es von einem intransitiven Verb (einem Verb ohne Objekt) abgeleitet ist. Das ist in unserem Fall “gehen”:

  • ich gehe — ich bin gegangen (intransitiv, kein Objekt)
  • er begeht eine Tat — er hat eine Tat begangen (transitiv, mit Objekt im 4. Fall)
  • wir umgehen ein Hindernis — wir haben ein Hindernis umgangen (transitiv, mit Objekt im 4. Fall)
  • du übergehst mich — du hast mich übergangen (transitiv, mit Objekt im 4. Fall)

aber:

  • wir sind um ein Hindernis herumgegangen (kein Objekt, sondern Umstand des Ortes)
  • etwas geht hier vor — etwas ist hier vorgegangen (kein Objekt)
  • sie geht einer Spur nach — sie ist einer Spur nachgegangen (Objekt im Dativ)

Warum nur der 4. Fall?
Das Objekt steht auch in der Vergangenheitsform im Akkusativ, daher kann “sein” nicht verwendet werden. Der/die Handelnde (das Subjekt) “hat” das Objekt zuvor in den Zustand gebracht, der durch das Partizip des Verbs ausgedrückt wird: “Umgangen”, “begangen”, “übergangen”.

Wie meistens, gibt es auch bei dieser Regel Ausnahmen bzw. Grenzfälle. Zum Beispiel “überkommen”:

  • Wenn mich die Sehnsucht nach Einsamkeit überkommt, verstecke ich mich für ein paar Tage auf einer Alm und sage niemandem, wo ich bin.

Habe oder bin? Dem Sprachgefühl nach ist beides möglich, obwohl die Regel — wegen des Akkusativobjekts — nach “haben” verlangt. Doch vielleicht ist dieses Objekt nur ein scheinbares und steht für einen Umstand, weil die Formulierung “überkommen” nur eine umgangssprachliche Verkürzung von “kommen über…” ist: “Die Sehnsucht ist über mich gekommen…” wird zu “Die Sehnsucht ist mich überkommen”.

“Schlafen” hat kein Objekt, zumindest nicht in unserer modernen Sprache. Wir sagen trotzdem:

  • Ich habe geschlafen.

Handelt es sich um eine Ausnahme? Ist Schlafen überhaupt eine Handlung oder ein Zustand? Wenn wir die oben vorgestellte Regel anwenden, dann muss im Lauf der Zeit ein früher vorhandenes Objekt verschwunden sein — entweder ein äußeres Objekt oder der Schläfer selbst. Man ist im Schlaf nicht der eigene Herr oder die eigene Herrin, sondern einem (teilweise auch heute noch) geheimnisvollen natürlichen Vorgang unterworfen, den man allerdings selbst initiiert, indem man sich “schlafen legt” oder “einschläft”. Es erscheint paradox, dass man gleichzeitig etwas mit sich selbst anstellt, indem man den Schlaf herbeiführt bzw. zulässt, und im Zuge dessen zum Objekt einer schwer definierbaren Macht wird. Vielleicht ist diese Paradoxie der Grund für die Wahl des Hilfsverbs “haben”.