Heinrich von Kleist: Französisches Exerzitium das man nachmachen sollte, 1810
Ein französischer Artilleriecapitain, der, beim Beginn einer Schlacht, eine Batterie, bestimmt, das feindliche Geschütz in Respekt zu halten oder zugrund zu richten, placieren will, stellt sich zuvörderst in der Mitte des ausgewählten Platzes, es sei nun ein Kirchhof, ein sanfter Hügel oder die Spitze eines Gehölzes, auf: er drückt sich, während er den Degen zieht, den Hut in die Augen, und inzwischen*) die Karren, im Regen der feindlichen Kanonenkugeln, von allen Seiten rasselnd, um ihr Werk zu beginnen, abprotzen, faßt er mit der geballten Linken, die Führer der verschiedenen Geschütze (die Feuerwerker) bei der Brust, und mit der Spitze des Degens auf einen Punkt des Erdbodens hinzeigend, spricht er: “hier stirbst du!” wobei er ihn ansieht — und zu einem anderen: “hier du!” — und zu einem dritten und vierten und alle folgenden: “hier du! hier du! hier du!” — und zu dem letzten: “hier du!” – – Diese Instruktion an die Artilleristen, bestimmt und unverklausuliert, an dem Ort wo die Batterie aufgefahren wird zu sterben, soll, wie man sagt, in der Schlacht, wenn sie gut ausgeführt wird, die außerordentlichste Wirkung tun.
*) “inzwischen” mit der Bedeutung von “während”.
Miszelle, 22. Berliner Abendblatt, 25.10.1810, gezeichnet Vx.**), in: Heinrich von Kleist, Werke und Briefe in vier Bänden. Hg.v. Siegfried Streller u.a., Berlin: Aufbau (4) 1995, 3. Band, S.349
Das ist keine Anleitung für modernes Schreiben und schon gar keine, wie man mit seinen Mitmenschen umgeht. Doch Kleist liebte den Zusammenbau und die Verschachtelung von Informationssträngen zu langen, komplizierten Sätzen. Dafür ist dieser Text ein gutes Beispiel. Man muss ihn mehrmals lesen, um alle Fäden aufnehmen zu können und ihnen durch alle Verflechtungen hindurch zu folgen. Doch sobald man alles für sich zusammengesetzt hat, entsteht ein Gefühl von Gleichzeitigkeit, weil alle Erzählelemente, zumindest entsteht dieser Eindruck, gleichzeitig ans Ziel kommen — und dieses Ziel ist der Leser. Dieser Effekt ist mit dem modernen, hechelnden Kurzsatz-Stil nicht herzustellen, weil dieser nur als zeitliche Abfolge funktioniert. Die in anderen Textsorten übliche bürokratische Langsatz-Schreibweise hingegen bewirkt genau das Gegenteil, indem sie durch ihren Hang zu Abstraktionen und Verallgemeinerungen den Leser von der eigentlichen Aussage des Satzes entfernt. Bei Kleist sind die einzelnen Satzbestandteile nur wenige Wörter lang oder bestehen überhaupt nur aus einem einzigen Wort und sind durch Beistriche voneinander abgesetzt. Diese erzeugen einen kurzen Rhythmus, der dem Leser keine Ruhe lässt und ihn zwingt, sich ständig neu zu orientieren. Dass dieser Text in einer Zeitung erscheinen konnte, ist auch ein Beweis dafür, wie belastbar die Leser vor 200 Jahren mit Hinsicht auf die Länge und Kompliziertheit der Sätze gewesen sein müssen, während heute eine Satzlänge von 20 Wörtern von manchen Experten bereits als absolutes Maximum angesehen wird. Der erste Satz besteht inklusive der direkten Rede aus 133 Wörtern und hat immer noch 109, wenn die Zählung vor der direkten Rede abgebrochen wird. Der Doppelpunkt ersetzt zwar einen Punkt, verhindert aber, dass die Leser hier absetzen und Atem holen können. Arnold Zweig erkennt in dieser in seinen Augen paradoxerweise zugleich “unerhört harten und geschmeidigen” Struktur “vom Auftakt des Satzes bis zu den kadenzartig ausklingenden Schlüssen, mit denen fast jedes [Prosastück] uns entläßt, die Entfaltung eines ganzen Organismus aus der Periode, das heißt der schwellenden Teilnahme und Erregung des Erzählers wie des Hörers” und sieht Kleists kurze, aus täglichem Anlass produzierte Texte als “Musterstücke für den Formgeist, der in Kleists Stil waltet” (Arnold Zweig, Versuch über Kleist, 1923, zit. ebenda, Anmerkung, S.699-70).
**) Zuschreibung an Heinrich von Kleist