WÄRE, HÄTTE, WÜRDE
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Für die Funktion der Sprache ist nicht nur wichtig, WAS gesagt wird (= die von der Sprechsituation unabhängige Wortbedeutung, Fachbegriff: Denotation), sondern auch, welches Ansehen, welchen “Beigeschmack” und “Geruch” die Wörter haben, die man in einer Sprechsituation benutzt (Konnotation). Manchmal überwiegt sogar die Konnotation des gewählten Vokabulars, z.B. wenn es nur um gegenseitige Bestätigung der Sprechenden geht oder wenn sich jemand mittels der Sprache einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlt oder dies beweisen möchte. Umgekehrt gilt auch die Vermeidung von bestimmten Wörtern, Wendungen oder grammatischen Formen als Mittel, eine bestimmte gesellschaftliche Zugehörigkeit zu signalisieren — was sich oft sprachhistorisch bedingt mit regionalen Zugehörigkeiten deckt.
So werden zumindest in Österreich in der Alltagssprache nur noch Hilfszeitwörter zum Konjunktiv abgewandelt. Diese Sprechpraxis führt unweigerlich zur Unsicherheit bei der Konjunktivverwendung in der Schriftsprache — und überträgt dorthin dieselben Berührungsängste, weil man nicht altmodisch oder elitär wirken möchte. Natürlich darf man sich fragen, welche Funktion ein Konjunktiv, der im gesprochenen Deutsch kaum mehr gebraucht wird, im Schriftgebrauch noch haben kann. Sind die beiden nicht im Prinzip gleich?
Im Prinzip ja. In der Praxis jedoch kann die gesprochene Sprache ungleich “schlampiger” gehandhabt werden, weil ihr in der konkreten Sprechsituation viele andere Bedingungen und Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um die gewünschte Verständigung zu bewerkstelligen. Diese Rahmenbedingungen sind unter Umständen so stark, dass sie — das sei mit einem Augenzwinkern bemerkt — sogar Pferde in die Lage versetzen, Rechenaufgaben zu lösen. Geschriebene Sprache muss ihre Mitteilung abliefern, ohne auf irgendeine Voraussetzung auf Empfängerseite zählen zu können außer der, dass ihr Vokabular und ihre grammatischen und syntaktischen Regeln bekannt sind. Sie muss diese daher konsequent anwenden.
KONJUNKTIV 1 (I)
Gebildet ausgehend vom Indikativ Präsens
FUNKTION von Konjunktiv I:
BERICHT über etwas, das sich REAL ZUTRÄGT oder ZUGETRAGEN HAT:
Sie sagt, er sei krank.
(Beide Teile des Satzes geben die Realität wieder: Sie sagt etwas: nämlich, dass er krank sei. Ob ihre Aussage wahr oder falsch ist, spielt dabei keine Rolle)
Ich glaubte, ich sehe ein Pferd.
(= ich glaubte ein Pferd zu sehen: Ich habe das tatsächlich geglaubt, und es handelte sich um ein Pferd. Ob ich es wirklich gesehen habe, spielt keine Rolle)
Er fand, sie treffe mit ihren Bemerkungen immer ins Schwarze.
KONJUNKTIV 2 (II)
Gebildet ausgehend vom Indikativ Imperfekt (Mitvergangenheit)
FUNKTION von Konjunktiv II:
ANNAHME oder VORSTELLUNG einer von der Realität abweichenden oder in der Realität nicht erfüllten Variante, Gleichsetzung, Sichtweise etc.:
Sie wird vermutlich sagen, er wäre krank.
(= beide Teile des Satzes sind, unabhängig voneinander, nicht real, da sie Annahmen für die Zukunft sind)
Ich glaubte, ich sähe ein Pferd.
(aber in Wirklichkeit sah ich ein Maultier)
Am Morgen schien es ihr, als sängen die Vögel nur für die anderen.
(Ihr Gefühl an sich ist real, doch es beruht auf einer Vorstellung, die mit den Absichten der Vögel nichts zu tun hat)
Schade, wenn Sie noch blieben, hätten wir sicher einen lustigen Abend.
Die Mähne des Löwen leuchtete, als wäre sie aus purem Gold.
Ich wünsche mir, er wäre fleißiger, dann würde aus ihm noch was.
Viele kennen die Funktionen der beiden Konjunktivformen im Verhältnis zum Indikativ gar nicht. Andere, sicherlich eine Minderheit, benutzen die Konjunktivformen zwar auf die eine oder andere Art, halten sie aber hauptsächlich für eine lästige — und deswegen verzichtbare — Fehlerquelle. Was beiden Gruppen dadurch entgeht, ist ein (relativ) einfaches Instrument, um als Sprecher bzw. Sprecherin die eigene Position zum Gesagten mitzuteilen:
(Legende: Brief = Mitteilung, Posttasche = Sender, Briefkasten = Empfänger)
1. “Sie sagt, sie ist krank.” (Indikativ) — Ich gebe ihre Aussage wieder und vertrete sie auch selbst (unabhängig davon, ob diese der Wahrheit entspricht oder nicht).
= Naheverhältnis des Senders zur Quelle
2. “Sie sagt, sie sei krank.” (Konjunktiv I) — Ich gebe ihre Aussage genauso weiter, wie ich sie erhalten habe, ohne dazu Stellung zu nehmen.
= Äquidistanz des Senders zu Quelle und Empfänger
3. “Sie sagt, sie wäre krank.” (Konjunktiv II) — Ich gebe ihre Aussage weiter, zusammen mit meiner Einschätzung, dass diese (absichtlich oder unabsichtlich) falsch ist.
= Naheverhältnis des Senders zum Empfänger
Überprüfen wir das nochmals am Beispiel eines bekannten Volksliedes:
Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit, wer wohl am besten sänge…
Man erfährt, worum es bei dem Streit ging: Dafür genügte auch eine einfache indirekte Rede mit dem Konjunktiv I. Doch das “sänge” enthält zusätzlich eine wertende Stellungnahme: Es impliziert Unwirklichkeit, denn weder der Kuckuck noch der Esel kann singen; die beiden messen sich in Fähigkeiten, die sie nicht haben. Das “ä” statt dem “i” gibt der Aussage eine ironische Perspektive, es macht sich über die beiden Streitenden lustig.
So einfach können drei unterschiedliche Stellungen des Sprechers (Senders) zwischen Ausgesagtem (Mitteilung) und dem Zuhörer (Empfänger) ausgedrückt werden. Somit kann man bei der indirekten Rede also nichts falsch machen außer, etwas zu sagen, das man eigentlich nicht sagen wollte. Und selbst dann gibt es offenbar leider nur wenige, die genau verstehen, was man, in diesem Fall unwissentlich, gesagt hat. Daher ist wohl dem Rat des IDS auf grammis 2.0 beizustimmen, dass man im Zweifelsfall “nie daneben liegt, wenn man die Form des Konjunktiv Präsens [= Konj. I] wählt, um eine Indikativ-Form in indirekter Rede wiederzugeben”. Denn, wie dort ebenfalls nachzulesen ist, gibt es keine Garantie dafür, dass andere diese wunderbare funktionale Dreiteilung auch so verstehen. Stürzen wir uns doch, so gerüstet, trotzdem ins Getümmel der Kommunikation.