Länge mal Breite (“längst”)
Doch längst ist die Causa um jene Ex-Referatsleiterin, die mehr als 300 Mio. Euro verspekuliert haben soll, nicht aufgeklärt.
Richtig ist z.B.:
Doch der Fall einer Referatsleiterin, die mehr als 300 Mio. Euro verspekuliert haben soll, ist noch längst nicht aufgeklärt.
“Längst” ist etymologisch eine Variante von “längs”*, was “der Länge nach” bedeutet und eine räumliche Beziehung beschreibt, während “längst” analog dazu eine zeitliche Relation angibt:
Diese Arbeit ist noch längst nicht fertig.
Die Show hat schon längst begonnen.
“Längst” wird verwendet, wenn zwischen dem Zeitpunkt der Aussage (Jetzt) und dem Zeitpunkt, auf den die Aussage Bezug nimmt, ein beträchtlicher Zeitraum liegt:
Die Formulierung in dem Beispiel ist nicht falsch im Sinn einer Verfälschung der Aussage, d.h. man versteht irgendwann, was gemeint ist, und doch wirkt sie unrund. Denn längs des Satzes fast bis zu dessen Ende wird man in die falsche Richtung geführt. Doch längst ist die Causa — geklärt, abgeschlossen, erledigt, zu Ende gebracht? Nein, erst das vorletzte Wort zeigt, wo es wirklich hingeht, nämlich in die entgegengesetzte Richtung, in die Verneinung, denn die Causa ist nicht aufgeklärt. Weil deutsche Sätze so gebaut sind, dass ihre endgültig sinngebenden Bestandteile oft erst ganz am Ende kommen, ist es hilfreich, schon am Anfang einen Wegweiser aufzustellen. In der neurologischen Sprachforschung wird ein Effekt beschrieben, der “Priming” genannt wird — “Grundieren”, wie man es beim Lackieren macht, damit die Deckfarbe besser hält: Der Aktivierungsaufwand einer Bedeutung ist geringer, wenn vorher ein verwandter Inhalt verarbeitet wurde. Ein derart vorbereitendes Element ist in diesem Fall “noch”, denn es weist darauf hin, dass etwas nicht abgeschlossen ist bzw. dass ein Ende kurz bevorsteht (bei Voranstellung):
- Noch läuft der Motor, aber mit diesem Leck in der Ölwanne kommen wir nicht mehr weit. (= bis jetzt läuft er, doch kann er jederzeit absterben)
- Noch heute werde ich ihn zur Rede stellen. (= bis jetzt ist der Tag nicht zu Ende)
- Ich will noch mehr (= bevor es nichts mehr gibt)
- Noch will ich mehr (= bis es mir egal ist)
- Wir werden noch Vieles miteinander erleben! (= aber irgendwann trennen wir uns)
- Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine erste Schultasche aussah. (= später vielleicht nicht mehr)
- Wir können noch nicht abschätzen, wie hoch der Schaden ist. (= wann das der Fall sein wird, ist ungewiss)
- Noch können wir nicht abschätzen, wie hoch der Schaden ist. (= aber es kann nicht mehr lange dauern)
- So viel Schnee hatten wir hier noch nie. (= ich glaube nicht, dass sich das oft wiederholen wird)
- Noch hatten wir hier nie so viel Schnee (= aber die Wettervorhersage lässt einen neuen Rekord erwarten)
Mit “Längst” allein schwingt “schon” mit, was logisch ist, weil es (siehe oben) bedeutet, dass die gesamte Länge zurückgelegt worden ist. “Noch” funktioniert mit “längst” aber nur in der Verneinung, und es ist irreführend, es bei der Verneinung (“längst… nicht”) wegzulassen, wenn dazwischen der größte Teil des Satzes liegt.
*Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Aufl. bearb. v. Elmar Seebold, Berlin/New York: De Gruyter 2002