Sigmund Freud: Einige Charaktertypen, 1916
Es ist aber eine feine ökonomische Kunst des Dichters, daß er seinen Helden nicht alle Geheimnisse seiner Motivierung laut und restlos aussprechen läßt. Dadurch nötigt er uns, sie zu ergänzen, beschäftigt unsere geistige Tätigkeit, lenkt sie vom kritischen Denken ab und hält uns in der Identifizierung mit dem Helden fest. Ein Stümper an seiner Stelle würde alles, was er uns mitteilen will, in bewußten Ausdruck fassen und fände sich dann unserer kühlen, frei beweglichen Intelligenz gegenüber, die eine Vertiefung der Illusion unmöglich macht.
Sigmund Freud: Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit, 1916
Freud zitiert Shakespeare mit einer Äußerung des missgebildeten Herzogs von Gloucester am Anfang von “Richard III.”, um das Phänomen zu illustrieren, wie Menschen, die in früher Kindheit oder von Geburt an signifikante Beeinträchtigungen erfahren haben, sich dafür bewusst oder unbewusst durch Missachten von Regeln und Bedingungen schadlos halten wollen. Der spätere Konig Richard III. erklärt, da er von der Natur nicht zum Liebhaber, sondern als eine Art Monster geschaffen sei, wolle er statt eines Liebenden die Rolle des Bösewichts annehmen. Freud interpretiert dies im Sinn seines “Ausnahme”-Typus, der sich holt, was ihm von der Natur vorenthalten wurde. Interessant ist, wie Freud in unserem Zitat diese nachträgliche, im Stück nicht explizite Erklärung von Shakespeares Figurenentwurf legitimiert.