DATIVBEUGUNG, GEMISCHT
“Müllers größerem musikalischen Einfühlungsvermögen steht Maiers bessere Beherrschung des Handwerks gegenüber.”
Die Grammatikregel R 9 des Duden sieht zwar generell die parallele, d.h. gleichförmige Beugung vor, wenn mehr als ein Eigenschaftswort oder Partizip vor einem Hauptwort steht, stellt aber für den Dativ frei, ob parallel oder stark/schwach (wie im Beispiel oben) gebeugt wird. Die wechselnde Variante entschwindet im Fall von zwei Adjektiven leider immer mehr dem Sprachbild und -gefühl. Sie ist allerdings vorgeschrieben, wenn Artikel (der, die, das, ein, eine) und funktionsverwandte Pronomina und Zahlwörter (diese, solche, folgende, einige, alle) vor dem Adjektiv stehen:
“Dem größeren musikalischen Einfühlungsvermögen…”
Natürlich bestimmen beide Adjektive “Einfühlungsvermögen” näher, sie haben aber unterschiedliche semantische Aufgaben. Die Funktion von “größer” muss hier nicht erklärt werden, aber “musikalisch” kann zweierlei bedeuten. Sehen wir uns diese Wortfolge nochmals an, und zwar diesmal in paralleler Beugung:
“Größerem musikalischem Einfühlungsvermögen Müllers steht…”
Müllers Einfühlungsvermögen ist also musikalisch. Ist damit gemeint, dass spezifische Eigenschaften der Musik auch Müllers Einfühlungsvermögen charakterisieren, oder, dass er sich besser in Musik einfühlen kann als Maier und nicht z.B. in Literatur oder in seine Mitmenschen? Ist “musikalisch” eine Qualität oder eine fachliche Zuordnung? Wären die beiden Eigenschaften durch einen Beistrich getrennt, hieße das, dass sie der gleichen Kategorie angehören, nacheinander in einer Reihe stehen und eine nach der anderen aufgezählt werden:
“Größerem, musikalischem Einfühlungsvermögen…”
Dann müsste “musikalisch” eine Eigenschaft sein wie “groß”. Es ist stilistisch hier nicht vorteilhaft, doch zum besseren Verständnis könnte man sich auch vorstellen, den Beistrich durch ein “und” zu ersetzen. Diese Aufzählung fordert auf jeden Fall die parallele Beugung.
Doch die andere Variante — die fachliche Zuordnung — erscheint logischer. Erstens bleibt im Dunkeln, was denn das Besondere an einem so “musikalischen” Einfühlungsvermögen sein könnte. Zweitens fehlte in diesem Fall immer noch die nähere Bestimmung, in wen oder was sich Müller besonders gut einfühlen kann. Nur das Adjektiv “musikalisch” informiert uns außerdem darüber, was unter dem “Handwerk” Maiers zu verstehen ist. Der zusammenfassende Bezug auf einen bestimmten Begriff (“Musik”) wird ebenfalls durch die Beistrichsetzung signalisiert, diesmal durch das Weglassen des Beistrichs. Dieses zeigt, dass die beiden Adjektive nicht derselben Kategorie angehören und daher auch nicht nacheinander in einer Reihe stehen, sondern nebeneinander, und unterschiedliche Zeigefunktionen haben.
Fügen wir der Reihe von Adjektiven aber z.B. ein weiteres qualitatives hinzu und kehren zur ursprünglich verwendeten “klassischen” Stark-Schwach-Beugung zurück, dann wird ein interessanter Aspekt dieser “komplizierteren” Lösung sichtbar:
“Größerem, untrüglichem musikalischen Einfühlungsvermögen Müllers steht…”
Adjektive derselben Kategorie stehen durch Beistrich(e) getrennt, solche unterschiedlicher Kategorien ohne Beistrich. Doch die unterschiedliche Beugung macht die unterschiedlichen Funktionen der Adjektive soweit kenntlich, dass sogar der Beistrich weggelassen werden könnte, ohne dass über diese Funktionen und deren Bedeutung ein Zweifel entstünde. Es erscheint daher überlegenswert, wegen der größeren Deutlichkeit bei Adjektiven unterschiedlicher Kategorie im Dativ die Mischbeugung zu wählen.
Übrigens können Sie auf einfache Weise feststellen, ob zwischen zwei Eigenschaftswörter ein Komma gehört oder nicht. Sagen Sie sich Adjektive und Substantiv laut vor und betonen Sie dabei das erste Eigenschaftswort, z.B. “die GROSSE blaue Schale”. Dann fragen Sie sich: Gibt es auch eine KLEINE blaue Schale, von der man die andere unterscheiden muss? Wenn ja, sind die Adjektive nachgeordnet und werden nicht durch einen Beistrich getrennt. Gibt es keine andere blaue Schale, dann dient der Beistrich als ordnendes Element in einer Aufzählung von Eigenschaften der Schale.
Literatur: Igor Trost, Das deutsche Adjektiv: Untersuchungen zur Semantik, Komparation, Wortbildung und Syntax. Hamburg: Buske 2006 (JSTOR: Rezension von N.Gondolph)