“Viral gehen” geht nicht flöten

Den englischen Ursprung von “viral gehen”, “to go viral”, gibt es noch nicht besonders lange. Es bestand keine Notwendigkeit dafür, bis man das Phänomen beschreiben wollte, dass ins Internet verschobene Botschaften (Bilder, Videos, Sprüche etc.) von selbst einen sich exponentiell vergrößernden Empfängerkreis finden, indem jemand sie an Freunde schickt und diese sie wiederum an ihre Freunde  weiterschicken. Weil die Verbreitung als Kettenreaktion und mit permanenter virtueller Vervielfältigung funktioniert, wurde sie mit einer Virusinfektion verglichen und mit dem entsprechenden englischen Adjektiv (“viral”) charakterisiert. Wie der Vermehrungsprozess von Viren in höheren Organismen ist jener von Nachrichten in sozialen Netzwerken perfekt an deren Strukturen angepasst – natürlich, weil diese ja dafür geschaffen bzw. nach und nach dafür adaptiert wurden.

“Viral” gab es im deutschen (gehobenen) Allgemeingebrauch bisher nicht, wohl aber “virulent”. Diese Eigenschaft eines Erregers zeigt an, dass er gerade verbreitet wird oder alle Voraussetzungen dafür bestehen. Er “geht” nicht virulent, sondern “ist” oder “wird” virulent. Über die Art oder Geschwindigkeit der Ausbreitung gibt das Adjektiv keine Auskunft, es beschreibt auch mindestens so sehr das Potential des Ereignisses wie einen bisherigen Verlauf. “Viral” hingegen, das bisher nur als verbale Zuordnung zu einem Virus existierte (z.B. virale DNS, virale Ansteckung), scheint in seiner neuen Bedeutung eher für eine bereits im Gang befindliche bzw. schon abgeschlossene Verbreitung zu stehen und “viral gehen” für den Schritt in den unumkehrbaren Verlauf der Ausbreitung.

Gehen – to go – kann im Englischen außer mit Präpositionen auch mit einigen anderen Wortarten kombiniert werden: mit Substantiven (go the whole hog = aufs Ganze gehen, go partners = sich zusammentun, go ape = sich begeistern), Interjektionen (the gun goes bang = losgehen) und Adjektiven bzw. Partizipien (go mad = wütend werden). Diese Kombinationen stehen meistens dafür, dass ein Zustand eintritt (etwas in einen Zustand eintritt) bzw. etwas ins Werk gesetzt wird. “Go” heißt in diesem Zusammenhang fast immer “zu etwas werden”. Bevor jemand auf die Idee kam, “to go viral” mit “viral gehen” zu übersetzen, gab es im Deutschen schon zwei vergleichbare Wendungen: bankrott gehen (to go bankrupt) und online gehen. Die angestammte deutsche Wendung für den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit ist “bankrott machen” (das Adjektiv wurzelt im Mittellateinischen und existiert ähnlich in mehreren europäischen Sprachen). Vermutlich ist die Nähe zu “go bankrupt” dafür verantwortlich, dass wir heute eher “bankrott gehen” oder “pleite gehen” sagen.

Das englische “to go online” ist mit der deutschen Variante nicht deckungsgleich, es meint eher serverseitige Aktivitäten (z.B. eine Website ins Netz stellen), während “online gehen” in der Regel bezeichnet, dass jemand sich als User mit dem Internet verbindet. Doch interessanter ist, dass “online gehen” nicht zu den deutschen Gebrauchsmustern von “Adjektiv + gehen” passt. Diese (wenigen) Wendungen sind nämlich durchgehend negativ konnotiert: verloren gehen, verschütt gehen, kaputtgehen, sogar heidi gehen, wie uns das Duden-Synonymwörterbuch mitteilt. Flöten (Verb) und bachab gehen (Umstandswort) fallen sinngemäß, aber nicht grammatisch darunter. “Online” ist auf keinen Fall in dieser Weise gefärbt und “viral” im Prinzip auch nicht, denn es bezeichnet vorerst nur die Art und Schnelligkeit der Ausbreitung. Trotzdem, die semantische Nähe zum Krankheitserreger scheint ihre Spuren zu hinterlassen, in den Nachrichtenmedien, so zumindest ein oberflächlicher Eindruck, gehen bevorzugt negative Dinge “viral” – somit, bedauerlicherweise, das Gegenteil von verloren.

Das dürfte an einer Interpretation von “gehen” liegen, welche eine Eigenbewegung bezeichnet, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Dies trifft auf “viral gehen” zu, denn während die Verbreitung einer Mitteilung beabsichtigt ist, entzieht sich die Geschwindigkeit der Verbreitung und der tatsächliche Empfängerkreis der Kontrolle der Person, die diese Mitteilung losgeschickt hat.

So sehr “viral gehen” also wie ein false friend klingt, es scheint rein sprachlich keiner zu sein, die direkte Übertragung entspricht auch einem deutschen Ausdrucksmuster. Technisch ist der Mechanismus, der uns “go viral” in deutschem Gewand statt der eingeführten Verben “verbreiten” bzw. “ausbreiten” beschert, allerdings derselbe: Was schon da steht, wird übernommen. Dass es hier im Deutschen (einigermaßen) funktioniert, ist Zufall, weil es keinen kompetenten Auswahlprozess gibt. Ein Zufallstreffer blinder Kornfindung auf dem Hühnerhof der falschen Freunde also. Subjektiv gesehen ein sehr hässlicher Ausdruck, ohne Hoffnung, dass er uns bald wieder flöten geht.